2020

Balkans Beyond Brass

Savina Yannatou © Maarit Kytoharju
Savina Yannatou © Maarit Kytoharju

Der Balkan: ein Wirbel aus Klang – eine Welt voller Geheimnisse

von Maja Vasiljević

Der Balkan ist ein Körper, in dessen Brust viele Herzen schlagen. Er ist eine unergründliche Welt. Wenn man sich jedoch einmal dafür entschieden hat, in dieses Universum einzutauchen, dann führt der richtige Weg durch ebenjene Herzen, die vor musikalischer Vielseitigkeit schier übersprudeln.

Der Balkan gehört weder zum Osten noch zum Westen. Geopolitisch ist er ein Niemandsland - und ein Gebiet mit vielen Narben. Einige dieser Narben rühren von seiner Rolle als Durchgang. Für die einen nur Transitregion, ist er für andere vertraute Heimat. Seine Länder waren quer durch die Geschichte von den Reichen im Osten wie im Westen heißbegehrt und umkämpft. Sie waren stets und sind noch immer Brücken und Grenzen zugleich. Und doch bleiben ihre Tiefe, ihr Charakter und die vielen Talente ihrer Menschen entweder völlig im Dunkeln verborgen oder werden durch Vorurteile verschleiert.

Dem Balkan wohnt eine starke imaginäre Kraft inne. Für jeden hat sein Name einen anderen Klang und ruft andere Assoziationen und Bilder hervor. Für manche ist er der Ort ihrer Kindheit, andere (wohl die meisten) werden nie die schrecklichen Bilder eines blutgetränkten Landes vergessen, und einige blenden ihn einfach aus, zeigen ihm die kalte Schulter und sehen in ihm nur ein Anhängsel Europas, vielleicht sogar nur Ballast.

Doch sobald man sich seiner Musik zuwendet, schwindet jeder Kummer, jede Last wie von Zauberhand: Die Menschen des Balkans vergessen, wie sie vom Rest der Welt wahrgenommen werden. Im selben Augenblick, in dem sie eine vertraute Melodie hören, sich an die Verse eines Gedichts erinnern oder einen der markanten Rhythmen des Balkans vernehmen, beginnen sie alle, oft ganz unwillkürlich, sich zu wiegen und zu schwingen als wären sie ein einziger Körper. Schultern kreisen, Tränen fließen, Arme breiten sich aus wie die Flügel eines anmutigen Vogels. Manche klatschen im Takt, andere schwelgen still in der Musik oder singen mit – und alle kehren sie unbewusst in jene Zeit zurück, in der solche Klänge zum ersten Mal den Weg ins Innere ihres Herzens gefunden haben. In eine Zeit, in der es weder Worte noch ihre Bedeutungen gab. Eine Zeit vor allen Taten. Musik füllt die Leere, sie beruhigt und weckt Erinnerungen an eine Zeit, in der diese Länder noch ein glückliches Versprechen erfüllte, ein Versprechen an die Welt und an uns selbst.

Wer, wenn nicht die Musiker aus all diesen verschiedenen Ländern – deren Puls im Einklang mit dem besonderen Herzschlag des Balkans pocht, die die komplexen Rhythmen dieser Herzen unmittelbar erfassen –, wer, wenn nicht sie könnte uns die Hoffnung auf die Erneuerung dieses Versprechens zurückgeben!

"Der Balkan" – Was verbirgt sich hinter diesem Namen? Woher kommt er überhaupt? Warum wird er von Einigen immer wieder vehement und verbissen verleugnet als brächte er Unglück? Kann irgendjemand genau sagen, wo diese Region beginnt und wo sie endet? Es gibt unzählige Debatten über ihre rechtmäßigen Grenzlinien. Und doch schwinden alle Grenzen des Balkans angesichts des Klangs seiner Sprachen, der Bilder seiner Filme und nicht zu vergessen der Gerüche und Geschmäcker seiner Küche. Und labt sich die Seele nicht auch an Musik? Wenn die verbindende Kraft der Musik schwerer wiegt als Worte und Taten, wenn verschiedene Seelen von ein und demselben vertrauten Gefühl der Wärme übermannt werden, verliert jede noch so bedeutsam geglaubte spezifische Herkunft an Gewicht und weicht dem starken Gefühl eines gemeinsamen kulturellen Hintergrundes. Der Balkan ist viel mehr über eine Reihe emotionaler Koordinaten greifbar, als über das Aufzählen bestimmter Ländernamen und das Ziehen von Grenzen. Statt also immer neue Grenzen abzustecken, sollten man sie lieber für immer verwischen. Genau das gelingt über Musik fast völlig mühelos und unmittelbar. Und genau das schafft auch das Morgenland Festival seit nunmehr 16 Jahren überall dort, wo sein Scheinwerferlicht hinfällt.

Musiker aus den Balkanstaaten, die in den 90er Jahren verzweifelt versuchten, sich Gehör zu verschaffen, befanden sich auf verlorenem Posten. Sie waren ihrer emotionalen Identität beraubt, ihr kreatives Werk rückte in den Hintergrund und ihre Musik verlor ganz plötzlich ihr Publikum. Und zu all dem kam das donnernde Delirium des Brass, der alles übertönte. Brassbands gehören seit jeher zum musikalischen Erbe des Balkans und haben sicherlich ihre Berechtigung, einen großen künstlerischen Wert und ihre eigene Schönheit und Faszination. Doch ihre schiere Anzahl, ihre überwältigende und allgegenwärtige Präsenz hatten ungeahnte Konsequenzen. Brass wurde plötzlich zu einer Art Synonym für die Musik des Balkans und es schien, als gebe es nichts anderes mehr. Das war bedauerlich und entsprach vor allem nicht der Realität. Brass bot vielleicht ein Ventil für all die Gefühle, die sich während der Schrecken des Bürgerkrieges im postkommunistischen Jugoslawien aufgestaut hatten. Die Bewohner der Staaten, die damals aufeinanderprallten, fanden sich plötzlich inmitten eines ständigen Deliriums wieder. Unbeschreibliche Gräuel prägten fast über Nacht ihre kurz zuvor noch sicheren, schönen und friedlichen Länder. Die Brassmusik bot damals für viele die Möglichkeit, in einem inszenierten Wahnsinn zu schreien und zu beben, um nicht den Verstand zu verlieren.

Das diesjährige Morgenland Festival tritt an, einige falsche Vorstellungen von der Musik aus Südosteuropa zu revidieren. "Südosteuropa" ist eine geopolitische Bezeichnung, die man nach einiger Diskussion wiederentdeckt hat und die wie geschaffen zur Vermeidung des "B-Worts" scheint. Im Motto des diesjährigen 16. Morgenland Festivals kommen dagegen gleich drei B-Worte vor: es lautet "Balkans Beyond Brass". Wir möchten uns damit uns von allen Vorurteilen frei machen und das, was wir lieben, die Wurzeln, an denen wir festhalten, beim Namen nennen.

Wir wissen natürlich, dass es ein in Bulgarien aufragendes Gebirge ist, das dem Balkan seinen Namen gegeben hat. Doch es gibt noch eine andere, poetischere Geschichte über den Ursprung der Bezeichnung. Ein großer Teil des Balkans befand sich über 500 Jahre unter osmanischer Herrschaft. Die kulturellen Spuren dieser Zeit sind allgegenwärtig (auch wenn viel Energie darauf verwendet wurde und wird, sie zu verwischen) – in den Sprachen, in den mikrotonalen Harmonien der Musik, im Essen, in der Architektur (zumindest dort, wo diese erhalten ist), bis hin zur Religion. Die türkischen Worte bal und kan bedeuten nun zufällig Honig und Blut! Wörtlich handelt es sich beim BAL-KAN demnach um "das Land von Honig und Blut".

Sowohl online als auch live erwartet das Publikum eine hochkarätige, spannende und überraschende Vielfalt an Musik und Musikern aus dem Balkan jenseits von Brass-Musik.

Die einzigartigen musikalischen Spuren dieses Erbes führen in die dichten Wälder des Balkans, in seine atemberaubend schönen mittelalterlichen Kirchen und freskenreichen Klöster, in seine kleinen Dörfer, zu einsiedlerischen Hirten auf Berggipfeln, in herrschaftliche Paläste, auf bezaubernde Inseln und sogar auf Schlachtfelder und ganz besonders in Grenzgebiete. Dieses Jahr erwarten unser Publikum die Zauberkünste rumänischer und moldawischer Lăutari, die atemberaubenden Fähigkeiten bulgarischer Kaval-Spieler,  die faszinierenden, mäandernden Gesänge byzantinischer Cherubim aus Altserbien, nostalgische sephardische Klänge aus Thessaloniki, fesselnde neuentdeckte Akkordeonmusik aus Sarajevo, eindringlicher A-capella-Gesang aus Serbien und vieles mehr.

Die Maramureș, Bosnien, Serbien, Mazedonien, Kosovo, Thrakien, Chalkidiki, Byzanz und Konstantinopel; Sarajevo, Mostar, Thessaloniki, Tuzla, Belgrad and Ohrid; die Küsten des adriatischen, ionischen, ägäischen und des Schwarzen Meeres und viele mehr – von all diesen Orten kommen die Künstler, die dem Publikum des Morgenland Festivals einen exklusiven Einblick in die musikalische Welt des Balkans geben werden.

Einen endgültigen Konsens über die Grenzen des Balkans werden wir wohl nie erreichen, doch wir können all seine Herzen zu einem vereinen. Zu einem riesengroßen, bunt schillernden, faszinierenden Herzen, das für und durch Musik schlägt. Die 16. Auflage des Morgenland Festivals trägt also ihren Teil zur Lüftung des Geheimnisses und zur Lösung des Rätsels Balkan bei. Wir tun das auf unsere übliche Weise – indem wir mit Ihnen zusammen die Musik feiern und großartige Musiker an einem Ort versammeln.

Ist es nicht erstaunlich, dass eine derart reiche und mannigfaltige Kultur noch immer ein unbekanntes Terrain sein kann, eine terra incognita, und das, obwohl es nur einen Steinwurf von Westeuropa entfernt liegt? Der Balkan ist so nah, nicht weit östlich von Triest. Vielleicht, ja vielleicht, hat uns der Balkan-Brass einfach allzu lang betäubt. Lassen Sie uns den unheimlichen Reichtum der musikalischen Schätze bestaunen, die seit Jahrhunderten in dieser Region schlummern.

Das 16. Morgenland Festival zeigt den unbekannten Balkan: Morgenland präsentiert "Balkans Beyond Brass"!

Maja Vasiljević wurde in Belgrad geboren. 1991 zog sie nach Spanien. Sie schreibt und moderiert das Programm 'Rumbo al Este' ("Richtung Osten") auf Radio Clásica, dem Klassiksender der spanischen Rundfunkanstalt RNE, und ist künstlerische Beraterin von Balkans Beyond Brass beim Morgenland Festival Osnabrück.

 

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